2007-12-06

Mehrheit, Minderheit und Freiheit

Ab wann beginnt Mehrheit mehr zu sein, als die Überzahl, nämlich dominant und unterdrückend? Wann verstellt die reine Anzahl den Blick auf die Inhalte? Es ist der Moment, da sich die Masse bildet.

Die Masse unterbindet Kritik, indem sie beherrscht. Ihr steht die Minderheit nicht mehr gegenüber, wie es das demokratische Mehrheitssystem vorsieht, sondern die Mehrheit hat sich dann etabliert, als Ton angebend. Sie gibt die Ordnerfunktion vor und Besonderheit ist, man kann sich ihr nicht mehr verständlich machen. Sie ist geschlossen und zieht nur noch Anhänger an und stößt Gegner ab. Es gibt statt verschiedener inhaltlicher Meinungen nur mehr ein für oder gegen die Masse, bald vollkommen unabhängig von der Gründungsursache, dem zur Entscheidung stehenden Problem.

Die Masse, wenn einmal gebildet, ist nicht mehr problemorientiert, sie bindet Macht und emanzipiert sich von ihrem Ursprung. Sie formiert ein dominantes System, entstanden aus einem Ungleichgewichtszustand.

Wenn es einen Feind der Demokratie gibt, der ihr wirklich gefährlich werden kann, dann ist es die Masse, denn deren Keim steckt in der Demokratie selber, ihm muss sie sich aussetzen: Das Mehrheitsprinzip. Demokratie ist also mehr als nur Mehrheit und Minderheit. Demokratie ist Verhinderung des Umkippens in ein stabiles Gleichgewicht, nämlich der Dominanz der Mehrheit. Demokratie muss sich darum bemühen, dass Common sense nicht unterdrückt. Er nicht zur Restriktion wird, die verhindert in den labilen Zustand zurückzukehren.

Die Masse lockt mit klarer Orientierung, eindeutigen Zielsetzungen und der Illusion der Gemeinschaft, die an einem Strang zieht. Das Verführungspotential der Masse ist ihre Eindeutigkeit, und ihr Reservoir ist Gleichgültigkeit und Opportunismus. Demokratie ist der Tanz auf der Klinge und erfordert Anstrengung zum Dissens.

Die Masse ist bestrebt die Minderheit zu verunsichern und zu zerstreuen, um endlich sie sich einzuverleiben. Die Masse geht der Konfrontation aus dem Weg, sie führt keinen Kampf, sondern verdrängt. In demokratischen Verhältnissen ist Ignorieren ihr erfolgreichster Weg: die Stimme entziehen. Solange es Mehrheit und Minderheit als Antagonisten im Spiel um Inhalte gibt, hält sie den Spielraum der Freiheit offen - und über ihr das Damoklesschwert der Masse.
Jürgen Mick, Mehrheit, Minderheit und Freiheit